Eigene Stärken erkennen

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Junge Frau erkennt ihre eigene Stärke.

Anika Diedrich ist Talent Management Consultant und zertifizierter Stärken-Coach bei Gallup. Sie führt wissenschaftlich entwickelte Interviews mit KandidatInnen der Gallup Kundenunternehmen durch und berät deren HR-ManagerInnen und Führungskräfte auf Basis der erstellten Talentprofile bezüglich der Eignung der jeweiligen Person. Zudem unterstützt sie Führungskräfte und MitarbeiterInnen in individuellen Gesprächen dabei, die eigenen Talente besser zu verstehen und produktiver einzusetzen. Das Ziel ihrer Tätigkeit ist es, KundInnen von Gallup zu helfen, das vorhandene Potential möglichst produktiv zu nutzen und optimal ins Unternehmensumfeld passende neue MitarbeiterInnen zu finden, um Wachstumssteigerungen in einem gesunden Arbeitsumfeld zu ermöglichen.

Anika Diedrich>absolventen.at: Frau Diedrich, lassen Sie uns über Potenziale von BewerberInnen sprechen: Welche Bedeutung hat die Kenntnis der eigenen Stärken für den beruflichen Erfolg und die persönliche Zufriedenheit?

Anika Diedrich: Eine sehr große. Sich seiner eigenen ganz individuellen Talente bewusst zu sein bedeutet, dass ich weiß, in welchen Bereichen ich besonderes Potential habe, um herausragende Leistungen zu erbringen. Und in welcher Art und Weise und unter welchen Voraussetzungen ich am besten arbeiten, denken und handeln kann. Wenn ich es schaffe, meine Talente zur Stärke zu entwickeln und diese dementsprechend einzusetzen, werde ich die Dinge mit Leidenschaft tun und wirklich Spaß an der Sache haben. Unsere Forschung zeigt, dass dreimal so viele Menschen, die ihre Stärken täglich bewusst einsetzen, eine exzellente Lebensqualität haben, im Vergleich zu denjenigen, die dies nicht können.

 

>absolventen.at: Die LeserInnen unseres KarriereGuides haben sehr wenig bis gar keine Berufserfahrung. Wie ist es möglich, bereits in frühem Lebensalter berufsbezogene Stärken zu erkennen?

Diedrich: Unsere Talente stecken bereits als Kind in uns und entwickeln sich im Laufe der Zeit immer weiter – geprägt von Erfahrungen, die wir machen, von Dingen, die uns im Laufe unseres Lebens mitgegeben werden, durch unser Umfeld, die Menschen, die uns umgeben usw. Talente sind Gedanken-, Gefühls und Verhaltensmuster, die in unserer Natur verankert sind und die wir automatisch einsetzen – in allen Lebenssituationen. Beispielsweise neigen Menschen mit einem besonders ausgeprägten Integrationsbesteben meist bereits als Kind dazu, zum Beispiel die Außenseiter in der Klasse oder im Sportverein in die Gruppe zu integrieren. Diese besondere Fähigkeit, Störungen in einer Gruppe bereits frühzeitig zu erkennen und diese wieder zusammenzuführen, kann später im Berufsleben sehr wertvoll eingesetzt werden.

 

>absolventen.at: Es gibt BewerberInnen, die ihre Stärken genau kennen. Andere haben schon Probleme, drei Stärken aufzuzählen. Besitzen Menschen tatsächlich unterschiedlich viele Stärken?

Diedrich: Es geht viel weniger um die Anzahl der in einem Menschen vorhandenen Talente, sondern vielmehr darum, dass man sich mit seinen Talenten auseinandersetzt und lernt, sie positiv einzusetzen. So sind sich manche Menschen bereits im jungen Alter ihrer Stärken sehr bewusst – vielleicht weil sie bereits mehr direktes Feedback dazu erhalten haben oder weil sie einfach besser darin sind, sich selbst zu reflektieren als andere. Meiner Meinung nach sind manche Talente auch „offensichtlicher“ als andere. Zum Beispiel wird bei einer/m StudentIn mit einer stark ausgeprägten Kontaktfreudigkeit gepaart mit hoher Kommunikationsfähigkeit allen schnell klar, dass dieser kein Problem damit hat, in einem vollen Vorlesungssaal schnell Anschluss zu finden und dem/der ProfessorIn vor der Gruppe Verständnisfragen zu stellen. Dagegen sind Talente wie Harmoniestreben oder etwa Behutsamkeit meist nicht ganz so offensichtlich zu erkennen und werden sogar manchmal im ersten Moment nicht als etwas Positives gewertet. Verfügt ein/e Kommilitone/in jedoch über eines dieser Talente wird man sicherlich bald zu schätzen wissen, dass sie/er der Lerngruppe hilft, bei Meinungsverschiedenheiten zu vermitteln, dass er Ruhe in die Diskussion bringt oder aber dafür sorgt, dass alle relevanten Informationen berücksichtigt wurden, bevor man die endgültige Präsentation der Ergebnisse fertigstellt.

 

>absolventen.at: Macht es Sinn, Stärken zu priorisieren? Gibt es weniger wichtige und bedeutendere Stärken? Und sind Social Skills mittlerweile wichtiger als fachliche Stärken?

Diedrich: Unsere Forschung zeigt uns immer wieder, dass es keine speziellen Stärken gibt, mit denen man in einer bestimmten Rolle besonders erfolgreich ist. Wichtig ist, dass man seine Talente kennt und daran arbeitet, diese positiv einzusetzen. Man sollte sich immer fragen, was will ich in dieser Situation erreichen und wie schaffe ich das mit Einsatz meiner vorhandenen Talente und nicht sagen: „Hierfür bräuchte ich jetzt ein Talent, was ich nicht habe.“ Zu Ihrer Frage nach den Social Skills versus Fachkenntnisse lässt sich Folgendes sagen: Mit Hilfe unserer Talente können wir unsere fachlichen Kenntnisse erst gewinnbringend einsetzen. Was hilft es, wenn ich alle Fußballregeln auswendig kann, aber nicht fähig bin, mich in das Team zu integrieren, um diese dann erfolgreich anzuwenden.

 

>absolventen.at: Vielen Menschen ist es unangenehm, über eigene Stärken zu sprechen. Welche Tipps können Sie ihnen geben, um diese professionell zu kommunizieren?

Diedrich: In unserer Gesellschaft neigen wir oft dazu, die eigentlichen Stärken abzuwerten, in dem wir sie mit negativen Begriffen belegen. Zum Beispiel wird jemand mit einer stark ausgeprägten Kommunikationsfähigkeit schnell zur „Quasselstrippe“oder zum „Märchenerzähler“.

Umso wichtiger ist es, alle Talente, nicht nur die eigenen, wertzuschätzen. Dann werden Sie nicht das Gefühl haben, sich selbst hervorzuheben, sondern stattdessen die Einzigartigkeit jedes Einzelnen anzuerkennen. Es geht nicht darum zu sagen „Ich bin super toll.“ Sondern darum zu differenzieren: „Ich bin besonders gut in dem Einen und Du dafür in etwas anderem.“ Diese Herangehensweise ermöglicht zudem Situationen oder Aufgaben zu erkennen, bei denen man sich zielführend mit anderen Menschen ergänzen kann.

 

>absolventen.at: Häufig taucht in Bewerbungsgesprächen auch die Frage nach eigenen Schwächen auf: Gibt es Schwächen, die man auf keinen Fall nennen sollte?

Diedrich: Generell gilt: Wenn ich mir meiner Stärken bewusst bin, sollte ich mir auch ruhigen Gewissens meine Schwächen eingestehen können. Mein Tipp wäre bewusst darauf zu achten, wie ich mit meinen Schwächen umgehe: Nutze ich meine Stärken, um meine Schwächen in bestimmten Situationen zu kompensieren – quasi als alternative Wege, wie ich dennoch zum Ziel kommen kann? Oder suche ich mir Menschen in meiner Umgebung, mit denen ich mich gut ergänzen kann und die ich in entsprechenden Situationen proaktiv um Unterstützung bitte?

Das Bewusstsein über seine Stärken als auch seine Schwächen kann man in Bewerbungsgesprächen sehr gut in Bezug aufs Erwartungsmanagement nutzen: Was könnt ihr als Arbeitgeber von mir erwarten, aber was für ein Umfeld brauche ich im Gegenzug dafür. Zum Beispiel: „Ihr könnte von mir erwarten, dass ich innovative Ideen entwickle, die anderen nicht in den Sinn kommen. Dafür brauche ich jedoch den Raum und flexible Arbeitszeiten, um meinen Gedanken freien Lauf lassen zu können und mich nicht durch festgelegte Strukturen eingeengt zu fühlen – das würde meine Kreativität bremsen.“ Eine solch transparente Offenlegung von Beginn an hilft beiden Seiten enorm für die spätere Zusammenarbeit.

 

>absolventen.at: Manche Ratgeber empfehlen, primär solche Schwächen anzugeben, die man auch als Stärke auslegen kann. Stimmen Sie dieser Empfehlung zu?

Diedrich: Sie spielen sicher darauf an, dass jede Stärke, mit der ich glänzen kann, auch immer eine Schattenseite hat. Umso wichtiger ist es, sich dieser Schattenseiten bewusst zu sein, und zu lernen, damit bestmöglich umzugehen. Um nochmals das Beispiel von vorhin aufzugreifen: Wenn ich angebe, dass ich viel und gern rede und manchmal eine Quasselstrippe bin, dann ist das in diesem Kontext eher negativ gemeint, statt die eigentliche Stärke Kommunikationsfähigkeit in den Vordergrund zu stellen. Ob das jedoch zielführend ist, wird vermutlich sehr davon abhängen, was für ein Mensch mein Gegenüber ist.

Viel wichtiger bei der Suche nach einem Job ist immer herauszufinden, ob die Position in dem entsprechenden Unternehmen wirklich zu mir passt. Daher empfehle ich grundsätzlich ehrlich zu sein. Wenn ich zum Beispiel weiß, analytisches Durchdenken von Sachverhalten ist nicht mein Ding und beim Einfüllen unzähliger Daten in eine Excel-Tabelle werde ich schnell ungeduldig und schweife ab, dies aber möglicherweise ein größerer Teil des Jobs sein könnte, dann sollte man das zum Wohle aller Beteiligten im Vorhinein klären. Oder wenn ich mich unwohl dabei fühle, auf fremde Menschen zuzugehen, dies in Zukunft jedoch einen wesentlichen Teil meines Arbeitsalltags ausmachen könnte, sollte auch das rechtzeitig angesprochen werden.

 

>absolventen.at: Ist es produktiver, seine bereits vorhandenen Stärken auszubauen, als an den Schwächen zu arbeiten?

Diedrich: Auf diese Frage kann ich eindeutig mit „ja“ antworten. Unsere Forschung zeigt, dass ich auch wenn ich noch so mühsam versuche, eines meiner schwächer ausgeprägten Talente zu verbessern, nie so erfolgreich darin sein werde, wie wenn ich dies mit einem meiner bereits starken Talente versuche. Zudem müsste ich mich vermutlich verstellen und es würde mich sehr viel mehr Anstrengung kosten, denn ein solches Verhalten liegt einfach nicht in meiner Natur. Beim Einsatz meiner ausgeprägten Talente hingegen werde ich am Ende immer das Gefühl haben, dass ich mehr zurückbekomme, als ich eingesetzt habe.

 

>absolventen.at: Warum gibt es bei Gallup genau 34 Stärken?

Diedrich: In den letzten 30 Jahren hat Gallup mehr als zwei Millionen Interviews durchgeführt um herauszufinden, welche Art von Verhalten zu herausragender Leistung führt. In all diesen Interviews mit Menschen aus den verschiedensten Berufen fanden wir eine enorme Vielfalt an Wissen, Können und Talent. Bald jedoch schon zeichneten sich bestimmte Muster in den Aussagen der Befragten ab. Nach einer anschließenden Analyse konnten 34 Muster als die am weitesten verbreitetsten Leitmotive des menschlichen Talents herausgefiltert werden. Seitdem bestätigt uns unsere Forschung immer wieder, dass sich anhand dieser 34 Talentthemen in ihren zahlreichen Kombinationen erklären lässt, wie Bestleistungen zustande kommen. Zudem lassen sie sich schnell und unkompliziert mit Hilfe unseres Online-Tools, dem Clifton StrengthsFinder® identifizieren und sind gut geeignet für die eigene Reflektion und die praktische Weiterentwicklung der individuellen Stärken im täglichen Leben.

 

>absolventen.at: Wie kann man bestehende Stärken weiterentwickeln?

Diedrich: Zunächst einmal ist es wie gesagt wichtig, die eigenen Talente zu erkennen. Hierbei können neben der Durchführung des CliftonStrengthsFinder® folgende fünf Fragen Aufschluss geben: Von welchen Tätigkeiten werden Sie von Natur aus angezogen? Welche Arten von Tätigkeiten können Sie sich besonders schnell aneignen? Bei welchen Tätigkeiten wussten Sie scheinbar automatisch, wie Sie vorgehen sollten? Bei welchen Tätigkeiten erbrachten Sie unbewusst hervorragende Leistungen, frei nach dem Motto „Wie habe ich das jetzt geschafft?“ Welche Tätigkeiten erfüllen Sie mit besonders großer Zufriedenheit, entweder noch während der Tätigkeit selbst oder direkt danach, so dass Sie denken: „Hoffentlich kann ich das bald wieder machen!“?

Sobald Sie Ihre Talente benennen können und herausgefunden haben, bei welcher Art von Tätigkeiten Sie diese positiv als Stärke einsetzen, geht es darum, Ihre Stärken weiterzuentwickeln. Hierbei gilt das einfache Prinzip „Übung macht den Meister“: Umso mehr Sie Ihre Stärken bewusst in der Praxis einsetzen, desto bewusster werden Sie sich dieser werden und umso mehr Möglichkeiten werden Sie finden, diese noch weiter auszubauen.

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